Philipp Guttmann, LL. B.

StGB AT: Schuld­fähigkeit und Ent­schuldigungs­gründe (§§ 19, 20, 21, 33, 35 StGB)

Dieses Repetitorium behandelt die Schuldfähigkeit und Entschuldigungsgründe wie Notwehrexzess und entschuldigender Notstand im Strafrecht (§§ 19, 20, 21, 33, 35 StGB) mit Erklärungen, Definitionen, Schemata und Streitständen.

Inhaltsübersicht und Vorbemerkung

Das Repetitorium zum StGB AT geht über den allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches (StGB), Abschnitt 2, Die Tat (§§ 13 - 37 StGB):


Bei Anmerkungen, Verbesserungsvorschlägen oder Fehlern können Sie sich gerne bei mir melden: ed.nnamttug-ppilihp@liam

Schuld

Schuld ist die individuelle Vorwerfbarkeit.[1] Sie wird nach dem Tatbestand und der Rechtswidrigkeit geprüft und umfasst die Schuldfähigkeit, das Unrechtsbewusstsein (vgl. § 17 StGB, Verbotsirrtum) und die Entschuldigungsgründe.

Schuldfähigkeit (§§ 19 ff. StGB)

Schuldfähigkeit ist die Einsichts- und Urteilsfähigkeit im Zeitpunkt der Tathandlung.[1]

  • Kinder (bis 14): nicht schuldfähig (§ 19 StGB)
  • Jugendliche (14 bis 18): schuldfähig, wenn sie die Fähigkeit hatten, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln (vgl. § 3 JGG)
  • Erwachsene (ab 18): grundsätzlich schuldfähig (Einsichts- und Urteilsfähigkeit wird vermutet), außer im Falle von § 20 StGB

Die Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB setzt sich aus zwei Komponenten zusammen:

  1. krankhafte seelische Störung, tiefgreifende Bewusstseinsstörung (u. a. hochgradige Affekte)[2], Schwachsinn (angeborene Intelligenzschwäche)[2] oder schwere seelische Abartigkeit (u. a. Psychopathien, Neurosen, Triebstörungen)[3]
  2. daraus resultierende Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln

Sind Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Täters wegen der in § 20 StGB genannten Gründe lediglich erheblich vermindert, so kann die Strafe gemäß § 21 StGB nach § 49 I StGB gemildert werden.

Notwehrexzess (Überschreitung der Notwehr, § 33 StGB)

Intensiver Notwehrexzess

Überschreitet der Täter (Verteidiger) bei bestehender Notwehrlage die Grenzen der Notwehr hinsichtlich der Erforderlichkeit (intensiver Notwehrexzess) aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so ist er nach § 33 StGB entschuldigt.[4] Dabei ist es entscheidend, dass der Verteidiger von seinem Affekt hingerissen wird.[5]

Extensiver Notwehrexzess

Umstritten ist, ob gleiches auch gilt, wenn der Angriff noch nicht oder nicht mehr gegenwärtig ist, also keine Notwehrlage besteht (extensiver Notwehrexzess):

  • der extensive Notwehrexzess sei von § 33 StGB nicht erfasst (Weigend, Fischer)[6]
  • der extensive Notwehrexzess sei von § 33 StGB erfasst, es mache keinen Unterschied, ob der Täter die Grenzen in der Intensität oder in zeitlicher Hinsicht überschreite (Perron)[6]
  • differenzierend: § 33 StGB sei nur beim nachzeitigen extensiven Notwehrexzess anzuwenden (Satzer, Rengier, Zieschang, Otto, Joecks);[7] für den vorzeitigen extensiven Notwehrexzess biete § 34 StGB hinreichenden Schutz[8]

§ 33 StGB ist unanwendbar, wenn der Täter die Notwehrlage durch Absichtsprovokation herbeigeführt hat.[9]

Putativnotwehrexzess

Stellt sich der Täter irrtümlich Umstände einer Notwehrlage vor, so ist strittig, ob in diesem Fall ein Putativnotwehrexzess im Sinne des § 33 StGB vorliegt:[10]

  • es liege lediglich ein Erlaubnistatbestandsirrtum vor, § 33 StGB sei nicht anwendbar (Satzer)[10]
  • § 33 StGB sei jedenfalls dann analog anzuwenden, wenn der Verteidiger schuldlos irre und das Opfer die alleinige Verantwortung für die Situation trage (Roxin, Jakobs)[10]
  • das dem Täter zuzurechende Unrecht sei zu mindern, indem § 33 StGB analog angewendet werde (Perron, Joecks)[11]

Entschuldigender Notstand (§ 35 StGB)

Aufbau[12]

  1. Notstandslage
    1. Gefahr für Leben, Leib oder (Fortbewegungs-)Freiheit[13]
    2. für sich, Angehörige oder andere nahestehende Personen
    3. gegenwärtig
  2. Notstandshandlung
    1. Eingriff in fremdes Rechtsgut
    2. Erforderlichkeit:
      1. geeignet
      2. relativ mildestes Mittel
    3. Einschränkung des Notstands:
      • krasses Missverhältnis (unerhebliche Gefahr)[14]
      • Herbeiführung der Notstandslage
      • Gefahrtragungspflicht durch besonderes Rechtsverhältnis
      • Gefahrtragungspflicht bei Gefahrengemeinschaften[15]
  3. Subjektives Element: jedenfalls Kenntnis der Notstandslage[16]

Notstandslage

  • die notstandsfähigen Rechtsgüter sind in § 35 I 1 StGB abschließend aufgezählt: Leben, Leib oder (Fortbewegungs-)Freiheit[17]
  • wer Angehöriger ist, ergibt sich aus § 11 I Nr. 1 StGB; nahestehende Personen sind solche, deren Gefährdung für den Täter eine starke seelische Zwangslage bewirken kann: dies ist jedenfalls bei Garantenverhältnissen wie Hausgemeinschaften, eheähnlichen Lebensgemeinschaften und engen Liebesverhältnissen der Fall[18]
  • eine Gefahr liegt vor, wenn aufgrund tatsächlicher Umstände die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines schädigenden Ereignisses besteht; umfasst wird insbesondere der Nötigungsnotstand[19]
  • gegenwärtig ist die Gefahr, wenn der Eintritt der Schädigung sicher oder höchstwahrscheinlich ist, sollten nicht rechtzeitig Abwehrmaßnahmen ergriffen werden; umfasst werden auch Dauergefahren[14]

Notstandshandlung

Die Notstandshandlung muss geeignet und das relativ mildeste Mittel zur Beseitigung der Gefahr sein, wobei die Erforderlichkeit enger als bei § 34 StGB gesehen wird: die Notstandshandlung des § 35 StGB muss als ultima ratio den einzigen und letzten Ausweg aus der Notstandslage mit einer nicht ganz unwahrscheinlichen Rettungsmöglichkeit darstellen; vorrangig ist die Inanspruchnahme der Hilfe Dritter.[20] Jedenfalls, wenn der eigene sichere Tod droht, ist das Handeln des Täters i. S. d. § 35 StGB erforderlich.[15]

Herbeiführung der Notstandslage (§ 35 I 2 Var. 1 StGB)

§ 35 StGB scheidet aus, wenn der Täter die gefahrverursachende Situation herbeigeführt und die Gefahr verursacht hat, wobei jedoch strittig ist, was über schlichte Kausalität hinaus erforderlich ist:[21]

  • der Täter müsse die Gefahr in objektiv pflichtwidriger Weise (wie bei der Ingerenz) verursacht haben (Zieschang, Rogall)[22]
  • der Täter müsse die Gefahr schuldhaft verursacht haben (Perron, Timpe)[22]

Im Übrigen reicht die unzureichende Wartung von Rettungsmitteln noch nicht, um eine Einschränkung des § 35 StGB anzunehmen.[23] Nahestehende Personen müssen das Vorverhalten des Täters nicht hinnehmen; es entfaltet insofern keine einschränkende Wirkung für § 35 StGB.[24]

Gefahrtragungspflicht durch besonderes Rechtsverhältnis (§ 35 I 2 Var. 2 StGB)

Eine Entschuldigung nach § 35 StGB scheidet aus, wenn dem Täter durch ein besonderes Rechtsverhältnis, etwa aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit, der Übernahme von Schutzaufgaben, von Gesetzes oder von Gewohnheitsrechtes wegen eine Gefahrtragungspflicht trifft und ihm diese gegenüber der Allgemeinheit obliegt.[25] Umfasst werden nur die Gefahren, welche die Tätigkeit notwendiger- und typischerweise mit sich bringt.[25]

Die Einschränkung gilt nicht, wenn die Gefahr einer nahestehenden Person droht und diese keine solche Pflicht trifft.[26]

Irrtum über die Notstandslage (§ 35 II StGB)

Irrt der Täter unvermeidbar über Umstände der Notstandslage, so ist er nach § 35 II StGB straflos, wenn er sich des Vorliegens der Notstandslage sicher ist und sie nicht nur für möglich hält.[27]

Teilnahme an einer entschuldigten Notstandstat

Da die Haupttat nur entschuldigt, jedoch rechtswidrig ist, ist Teilnahme grundsätzlich möglich.[28] Es liegt keine Anstiftung vor, wenn ein Dritter den Haupttäter lediglich auf die Regelung des § 35 StGB hinweist.[28]

Einzelnachweise

  1. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, Vor § 19, Rn. 1
  2. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 20, Rn. 6
  3. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 20, Rn. 7
  4. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 33, Rn. 1 f.
  5. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 33, Rn. 3
  6. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 33, Rn. 4
  7. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 33, Rn. 4 f.
  8. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 33, Rn. 5
  9. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 33, Rn. 6
  10. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 33, Rn. 7
  11. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 33, Rn. 7 f.
  12. vgl. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 2
  13. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 4
  14. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 6
  15. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 17
  16. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 10
  17. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 3 f.
  18. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 7
  19. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 5
  20. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 8
  21. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 14 ff.
  22. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 14
  23. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 15
  24. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 16
  25. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 12
  26. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 13
  27. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 19
  28. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 35, Rn. 20