Philipp Guttmann, LL. B.

StGB AT: Tatumstands­irrtum, Verbots­irrtum und Erlaubnis­tatbestands­irrtum (§§ 16, 17 StGB)

Dieses Repetitorium behandelt den Tatumstandsirrtum, den Verbotsirrtum und den Erlaubnistatbestandsirrtum im Strafrecht (§§ 16, 17 StGB) mit Erklärungen, Definitionen, Schemata und Streitständen.

Inhaltsübersicht und Vorbemerkung

Das Repetitorium zum StGB AT geht über den allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches (StGB), Abschnitt 2, Die Tat (§§ 13 - 37 StGB):


Bei Anmerkungen, Verbesserungsvorschlägen oder Fehlern können Sie sich gerne bei mir melden: ed.nnamttug-ppilihp@liam

Subjektiver Tatbestand: Tatumstandsirrtum (§ 16 I StGB)

Grundsätze

Wer bei Tatbegehung einen Umstand nicht kennt, der zum objektiven Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich (vgl. § 16 I StGB). Dabei setzen die Tatbestandsmerkmale in unterschiedlichem Maß Wissen um die Tatumstände voraus:[1]

  • Deskriptive Tatbestandsmerkmale: Der Täter muss den natürlichen Sinngehalt der deskriptiven Tatbestandsmerkmale erfassen, wofür er die Tatumstände (Sachverhaltselemente) kennen muss, die unter das Merkmal subsumiert werden.[2]
  • Normative Tatbestandsmerkmale: Der Täter muss den rechtlich-sozialen Bedeutungsgehalt der Tatumstände richtig erfassen (Parallelwertung in der Laiensphäre).[3]

Grundsätzlich müssen dem Täter die Tatumstände im Zeitpunkt der Tathandlung bewusst sein.[4] Ausnahmsweise jedoch genügt für bestimmte Tatbestandsmerkmale, die neben einer sinnlich wahrnehmbaren auch eine Bedeutungskomponente aufweisen, Qualitäten oder dauernde Pflichtverhältnisse bezeichnen oder auf allgemeine Zeitumstände hinweisen, lediglich ein sachgedankliches Mitbewusstsein.[5]

Ein Irrtum über Alternativen innerhalb eines Tatbestandes ist dann unbeachtlich, wenn der Unrechtsgehalt der in Frage kommenden Tatbestandsalternativen gleichwertig ist.[6]

Abweichung des vorgestellten vom tatsächlichen Kausalverlauf

Eine Abweichung des vorgestellten vom tatsächlichen Kausalverlauf ist grundsätzlich unbeachtlich, wenn die Abweichung sich innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren hält (unwesentlich ist) und keine andere Bewertung der Tat rechtfertigt.[7]

  • Verfrühter Erfolg: Abweichung beachtlich, wenn dem Täter der Kausalverlauf in der Vorbereitungsphase entgleitet, und unbeachtlich, wenn dem Täter der Kausalverlauf in der Versuchsphase entgleitet[8]
  • Verspäteter Erfolg: Beachtlichkeit umstritten:
    • Abweichung unbeachtlich, solange der Täter die spätere erfolgbringende Handlung bereits zum ersten Teilakt geplant hatte (dolus generalis) (Welzel)[9]
    • Abweichung beachtlich, es komme lediglich Versuch bzw. ein Fahrlässigkeitsdelikt in Betracht, da der Täter den Erfolg nicht in der ersten Handlung realisiert habe (Sowada)[9]
    • Abweichung nur beachtlich, wenn sie wesentlich ist (BGH, Rudolphi, Schuster, Joecks)[10]

Objekteerror in persona vel objectoaberratio ictus
rechtlich gleichwertigIrrtum unbeachtlichBeachtlichkeit umstritten (s. u.)
rechtlich nicht gleichwertigIrrtum beachtlichIrrtum beachtlich

  • error in persona vel objecto (Abweichung zwischen vorgestelltem und anvisiertem/getroffenem Objekt): Trifft der Täter ein anvisiertes Objekt, über dessen Identität er irrt, ist der Irrtum unbeachtlich, wenn das getroffene Objekt dem vorgestellten (erwarteten) rechtlich gleichwertig ist.[11] Sind die Objekte nicht rechtlich gleichwertig, ist der Irrtum beachtlich.[12] Umstritten sind jedoch Fälle, bei dem der Täter einen Alternativvorsatz (dolus alternativus) aufweist:
    • Vorsatz gegen beide Objekte bleibt bestehen: Bestrafung wegen des nicht getroffenen Tatobjekts wegen Versuchs, wegen des getroffenen wegen Vollendung (Hillenkamp, Stein, Fischer, Joecks)[13]
    • maßgeblich sei der Vorsatz des schwereren Delikts (Kühl, Otto, Vogel)[14]
    • grundsätzlich trete das versuchte gegenüber dem vollendeten Delikt zurück, sofern der Unrechtsgehalt nicht wesentlich schwerer wiege oder höchstpersönliche Rechtsgüter betroffen werden (Wessels, Satzger, Schmitz)[14]
  • aberratio ictus (Abweichung zwischen anvisiertem und getroffenem Objekt): Trifft der Täter ein Objekt, das er nicht anvisiert hatte, ist der Irrtum beachtlich, wenn das getroffene Objekt nicht rechtlich gleichwertig zum anvisierten Objekt ist.[15] Sind die Objekte rechtlich gleichwertig, ist umstritten, wie der Irrtum dann behandelt wird:[16]
    • beachtlich, jedenfalls bei höchstpersönlichen Rechtsgütern (Fischer, Jakobs, Joecks)
    • unbeachtlich (Kuhlen, Loewenheim)
    • unbeachtlich, sofern die Abirrung vorhersehbar war (Welzel, Geppert, Puppe)

Schuld: Verbotsirrtum (§ 17 StGB)

Grundsätze

Wer bei Tatbegehung in Kenntnis der Tatumstände über das Verboten- oder Gebotensein seines Verhaltens unvermeidbar irrt, handelt ohne Schuld (vgl. § 17 StGB). Der Verbotsirrtum ist unvermeidbar, wenn er auch bei hinlänglicher Sorgfalt nicht hätte verhindert werden können.[17] Dem Täter muss es zumutbar und möglich gewesen sein, die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens zu überprüfen und zu erkennen, wobei er sich insbesondere im Umfang seines Tätigkeitsfeldes sachkundig gemacht haben muss.[18]

Das Unrechtsbewusstsein ist teilbar.[19] Hat der Täter lediglich die Möglichkeit einer unerlaubten Rechtsverletzung erkannt und nimmt die Tatsache, dass sein Verhalten wirklich verboten ist, ernst, so hat er ein bedingtes Unrechtsbewusstsein. [20]

Entschuldigungsgründe

Irrt der Täter über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Entschuldigungsgrundes, so gilt § 35 II StGB (analog), irrt er lediglich über die Existenz oder die rechtlichen Grenzen eines Entschuldigungsgrundes, so findet § 17 StGB Anwendung.[21]

Persönliche Strafausschließungsgründe

Bei persönlichen Strafausschließungsgründen ist strittig, ob die objektive Rechtslage oder die Tätervorstellung hinsichtlich der irrigen Annahme von persönlichen Strafausschließungsgründen entscheidend sein soll.[22] Eine vermittelnde Auffassung will danach differenzieren, ob eine notstandsähnliche Motivationslage oder Zwangslage vorliegt (Tätervorstellung) oder es allein auf objektive Aspekte ankommt (objektive Rechtslage).[23]

Erlaubnistatbestandsirrtum

Von einem Erlaubnistatbestandsirrtum wird gesprochen, wenn sich der Täter irrtümlich Tatumstände vorstellt, deretwegen er glaubt, sein Verhalten sei gerechtfertigt/erlaubt.[24] Die Bewertung dieses Irrtums ist umstritten (verkürzter Streitstand):

  • Modifizierte Vorsatztheorie: Der Irrtum lässt den Vorsatz nach § 16 I StGB entfallen, wenn sich der Täter nicht der Sozialschädlichkeit seines Verhaltens bewusst ist.[25] Kritik: Das Unrechtsbewusstsein gehöre wegen der Wertung des § 17 StGB nicht zum Vorsatz, sondern zur Schuld.[26] Zudem wäre eine Teilnahme an der Haupttat wegen des fehlenden Vorsatzes nicht möglich.
  • Strenge Schuldtheorie: Der Irrtum ist beachtlich und entschuldigt den Täter nach § 17 StGB (Verbotsirrtum), wenn der sich auf Tatumstände beziehende Irrtum vermeidbar war.[27] Der Irrtum ist vermeidbar, wenn der Täter bei gehöriger Wissensanspannung ihm nicht unterlegen wäre.[28] Kritik: Der Erlaubnistatbestandsirrtum beruhe mehr auf einem Wahrnehmungs- als einem Bewertungsfehler, weshalb er dem Tatumstandsirrtum näher stehe als dem Verbotsirrtum.[29]
  • Eingeschränkte Schuldtheorie:
    • Vorsatzschuld verneinende Theorie: Die Rechtsfolge des Irrtums richtet sich nach § 16 I StGB analog, wonach bei beachtlichem Irrtum der Täter zwar für sein Verhalten entschuldigt ist (keine „Vorsatzschuld“), sein Vorsatz jedoch nicht entfällt (auch: rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie).[30]
    • Vorsatzunrecht verneinende Theorie: Andere innerhalb dieser Lehre verlangen hingegen, dass der Vorsatz entfalle.[31]

Die Besprechung des Streitstands empfiehlt sich aus pragmatischen Gründen unter einem eigenen Punkt Erlaubnistatbestandsirrtum nach der Rechtswidrigkeit und vor der Schuld.[32] Bei der Betrachtung der in Frage kommenden Rechtfertigungsgründe ist eine ex-ante-Beurteilung vorzunehmen, wodurch ggf. ein Streit über den Erlaubnistatbestandsirrtum hinfällig werden kann.[33]

Glaubt der Täter nicht an die rechtfertigenden Tatumstände, sondern hält sie nur für möglich, so ist strittig, ob in solchen Fällen ein Erlaubnistatbestandsirrtum vorliegt:

  • kein Irrtum, außer wenn die Fehlvorstellung unvermeidbar gewesen sei und der Täter zur Abwehr der Bedrohung in Form eines Risikos schwerer irreparabler Schäden hätte schnell handeln müssen (Rudolphi)[34]
  • Irrtum liege vor, solange die Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes dem Täter nicht gleichgültig seien (Perron)[34]
  • es sei bei der Beurteilung des Irrtums nach Maßgabe des jeweiligen Rechtfertigungsgrundes zu differenzieren (Warda, Joecks)[35]
  • Irrtum liege vor, wenn die Zweifel des Täters berechtigt seien (Schroth)[34]

Irrtum über priviligierende Tatbestandsmerkmale (§ 16 II StGB)

  • Kennt der Täter Tatumstände, die zur Erfüllung des Tatbestands eines qualifizierten Delikts führen, nicht, so ist eine Bestrafung wegen des qualifizierten Delikts ausgeschlossen.[36]
  • Irrt der Täter hingegen über Varianten des Tatbestandes eines qualifizierten Delikts, ist eine Bestrafung wegen einer anderen Variante möglich.[37]
  • Stellt sich der Täter Tatumstände vor, die zur Anwendung eines milderen Delikts führen würden, so kann nach § 16 II StGB nur nach dem milderen Delikt bestraft werden.

Einzelnachweise

  1. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 14
  2. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 15
  3. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 16
  4. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 20
  5. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 20 f.
  6. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 19
  7. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 15, Rn. 29
  8. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 15, Rn. 34
  9. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 15, Rn. 36
  10. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 15, Rn. 36 f.
  11. vgl. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 15, Rn. 38 f.
  12. vgl. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 15, Rn. 41
  13. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 15, Rn. 42 f.
  14. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 15, Rn. 42
  15. vgl. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 15, Rn. 44
  16. vgl. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 15, Rn. 46 f.
  17. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 17, Rn. 3
  18. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 17, Rn. 4 ff.
  19. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 17, Rn. 16
  20. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 17, Rn. 17
  21. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 17, Rn. 10 f.
  22. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 17, Rn. 13
  23. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 17, Rn. 13 f.
  24. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 31 ff.
  25. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 35, 45
  26. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 34
  27. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 37
  28. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 46
  29. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 48
  30. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 37, 39, 45
  31. vgl. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 27, Rn. 18
  32. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 50
  33. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 43
  34. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 52
  35. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 52 f.
  36. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 23
  37. Joecks, Wolfgang: Studienkommentar StGB, 11. Auflage, 2014, § 16, Rn. 24